Dichtung und Wahrheit um Heinrich IV.
Die Sage von der Schandenburg Scharzfels.
Von Otto Zander-P ö h l d e.

„Von der Parteien Haß und Gunst verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte“, sagt Schiller in seiner Wallenstein-Trilogie von Albrecht Wallenstein, Herzog zu Friedland, der von 1625 bis 1634 in dem grausamen Dreißigjährigen Kriege eine der furchtbarsten Geißeln des deutschen Landes gewesen ist. Der Satz Von der Verwirrung des Charakterbildes trifft auf eine ganze Reihe von überragenden Persönlichkeiten der Geschichte zu, die um ihrer geschichtlichen Sendung willen sich manche Feindschaft und manchen Haß zuziehen mußten, einen Haß, der oft genug Lügen und Verleumdungen gebar, die noch nach Jahrhunderten nicht auszurotten waren.

Eine Persönlichkeit, der zweifellos auch von ihren Gegnern und Zeitgenossen in bezug auf die Charakterbeurteilung manches Unrecht getan ist, und die jedenfalls wesentlich bessere Seiten gehabt hat, als die Feinde wahrhaben wollten, ist Heinrich IV., der Harzburger Kaiser, gewesen, der nach der Darstellung seiner zahllosen Neider ein gar zügelloser Fürst gewesen, sein soll, ein Mann, dessen Sittenlosigkeit den Anlaß gegeben hätte zum Sachsenaufstand und zur Zerstörung der Harzburg.

Fest steht wohl heute, daß der Sachsenkrieg und der Sturm der Sachsen gegen die Harzburg nichts anderes gewesen sind als eine machtpolitische Auseinandersetzung zwischen dem sächsischen Adel, den geistlichen und weltlichen Großen einerseits und dem Könige andererseits. Die sächsischen Fürsten fürchteten für die altangestammte Freiheit des Sachsenvolkes; sie meinten, der König würde mit Hilfe seiner neuen Zwingburgen, deren größte und festeste die Harzburg war, eines Tages die Fürstenmacht brechen können; den Fürsten kam es deshalb mehr als gelegen, daß die Bauern des Harzvorlandes über die Hand- und Spanndienste, die sie beim Bau der Königsburgen leisten mußten, erregt waren und aufbegehrten; ihnen konnte es auch nur genehm sein, daß bald im Lande die unheimlichsten Gerüchte und Märchen über Heinrich IV. umliefen.

So wurde davon geraunt, daß der Kaiser sich auf der Harzburg einem sehr ausschweifenden Leben hingebe, man flüsterte von heimlicher Mordtat, die im Auftrage des Kaisers in der Nähe der Burg begangen sein sollte, man erzählte offen, daß auf der Harzburg der Erbe des Sachsenlandes, der junge Herzog Magnus, im Kerker in harter Haft gehalten würde, und aus allen diesen Reden und Phantasien erwuchs dann die Stimmung, die im Jahre 1073 den großen Sachsenaufstand auslöste.

Bezeichnend für jene phantastischen Geschichten, mit denen das Volk gegen Heinrich IV. aufgebracht wurde, ist eine Sage, die noch heute im Volke lebendig ist und die um die Burg Scharzfels im Harze webt. Diese Sage erzählt im wesentlichen folgendes:

Auf der Burg Scharzfels hauste dereinst ein Ritter Albrecht von der Helden, ein Mann, der überall beim Volke hohes Ansehen genoß. Dieser Ritter hatte eine sehr schöne, liebreizende junge Frau und wäre der glücklichste Mensch von der Welt gewesen, wenn nicht bei einer Festlichkeit in der Kaiserpfalz Goslar der Kaiser Heinrich IV. der Frau des Ritters von der Helden ansichtig geworden wäre. Die Leidenschaft des Kaisers loderte Hochauf beim Anblick der lieblichen Frauengestalt, und in seinem Herzen erwog er, wie er vielleicht in den Besitz dieser züchtigen Hausfrau kommen könnte.

Gleich als der Ritter von der Helden mit seiner Gattin die Stadt Goslar verlassen hatte, sann der Kaiser darüber nach, wie er mit der schönen Burgfrau von Scharzfels wieder zusammenzutreffen vermöchte. Es fand sich ein Mönch des Klosters Pöhlde, der dem Kaiser versprach, ihm die Gelegenheit zum Zusammensein mit der Burgfrau zu verschaffen.

Eines Tages zog auf den Rat des Mönches hin der Kaiser mit großem Gefolge im Kloster Pöhlde ein. Dorthin ließ der Kaiser alsbald den Ritter von Scharzfels entbieten und gab ihm den Auftrag zu einem Dienste, der den Ritter mehrere Tage von seiner Burg fernhalten mußte. Der Kaiser begann während der Abwesenheit des Ritters eine Jagd in den Wäldern um Burg Scharzfels, ohne es jedoch über sich zu gewinnen, in der Burg Einkehr zu halten.

Erst als gegen Abend ein furchtbares Gewitter über den Harzbergen heraufzog, wagte der Kaiser, bei der Burgfrau um Einlaß und Obdach zu bitten, und die schöne junge Burgfrau nahm den Kaiser mit aller Ehrerbietung aus, die dem hohen Gaste zukam. In der Nacht lohnte der Kaiser diese Gastfreundschaft durch ein rechtes Bubenstück. Von dem Mönch geführt, drang er in die Kemnate der Burg ein, und als er an andern Morgen von der Burg schied, ließ er die Frau in Verzweiflung und Unehren zurück.

Nun ging in der Burg Scharzfels seit grauen Zeiten ein Burggeist um, ein Geist, der nie vordem jemandem Leides getan und der stets gut Freund gewesen mit allen Burgleuten. Diesen Schutzgeist jammerte die Schande und der Schimpf, die der jungen Burgherrin von ihrem Kaiser angetan wurden, er erhob ein großes Klagen und Schreien und Lamentieren, er schrie und fluchte dem Kaiser, daß die Mauern der alten Burg barsten und wankten und zitterten von diesen Flüchen. Dann stürzte sich der Burggeist von den Zinnen des Burgturmes und schwebte über das Land hin, klagend und allem Volke verkündend, daß der König selbst Unschuld, Recht und Sitte mißachtet habe.

Als Albrecht von der Helden erfuhr, was auf seiner Burg vorgefallen war, während er in der Fremde war, ritt er nach Goslar, um an dem Kaiser Rache zu nehmen. Der Kaiser aber hatte sich gut in Acht genommen, und der Ritter mußte aus Goslar weichen, um nicht den von Heinrich gedungenen Leuten in die Hände zu fallen. Der Ritter von Scharzfels zog daraufhin in den Harz, ging zu den Bergleuten und erzählte überall, wie ihm Schimpf angetan von seinem Kaiser. Die Bergleute ließen ihre Arbeit liegen, die Bauern kamen von ihren Aeckern, und alle griffen zur Wehr, um so großes Unrecht zu rächen. Das war der Anfang des Sachsenaufstandes. —

Soweit die uralte Sage von der „Schandenburg Scharzfels“, eine Märchendichtung, die über viele Jahrhunderte hin im Volke lebendig geblieben ist.

Gewiß mag diese Sage von ihrem ersten Erzähler im blindwütigen Haß und im jähen Zorn gegen Heinrich IV. ersonnen sein, vielleicht liegt ihr noch nicht einmal ein Staubkorn von geschichtlicher Wahrheit zugrunde. Trotzdem ist diese Sage von den angeblichen Ursachen des Sachsenaufstandes nicht uninteressant, zeigt sie uns doch, wie sich das Volk um das nüchterne Geschehen eines Machtkampfes im sächsischen Lande ein buntes Gerank von Phantasien zusammenspinnt, wie sich das Volk selbst Gründe und Begründungen für das Geschehen in der Welt zusammensucht, und wie schließlich eine romantische abenteuerliche Sage wird, in der Dichtung und Wahrheit sich zusammenfügen zu einem unentwirrbaren bunten Wunderteppich.

Burg Scharzfels um 1640 n. d. Kupferstich v. Merian.

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