Eine neue Tropfsteinhöhle am Lichtenstein

- Osteroder Zeitung vom Donnerstag, 3. Januar 1952 -

OSTERODE. Immer wieder einmal öffnet die Natur denen, die sich tagaus-tagein mit der Erforschung und Deutung ihrer Geheimnisse befassen, das Tor zu einem ihrer intimsten Bereiche. So gelang es einem jungen Geologen bei seinen Feldbegehungen, am Lichtenstein eine neue Höhle in den dortigen Gipsfelsen zu entdecken.
Zusammen mit einem Interessenten aus Badenhausen wurde mit Grubenlampen und unter vorschriftsmäßiger Anseilung die erste Begehung durchgeführt. Schon der Vorraum der Höhle, zu dem noch letzte Reste des Tageslichts Zugang haben, ist mit einem Teppich von prächtigen Kalkrosetten ausgelegt. Zahllose Einzelkristalle sind hierbei blumenkohlartig ineinandergefügt und sitzen meist auf einem kurzen Stiel; in hunderten von Exemplaren bieten diese Wuchsformen ein überwältigendes Bild von der unendlich variierten Gestaltungskraft der Natur.
Durch eine sehr schmale und enge, gerade einen Menschen durchlassende Öffnung kommt man in den eigentlichen Höhlenraum. Er erstreckt sich bei einer Höhe und Breite von nur einem Meter etwa 12 bis 15 Meter in nordsüdlicher Richtung und birgt in seinem mittleren Teil wundervolle Tropfsteine. Diese entstehen durch Regenwasser, welches auf Spalten des Gesteins versickert, dabei den Kalk an einer Stelle löst, um in an anderer Stelle wieder abzusetzen. Neben girlandenartigen, auf Fugen des Gipsgesteins aufsetzende Formen fallen traubenartige, bis einen halben Meter Länge erreichende sinterartige Gebilde ins Auge, während echte Stalaktiten, das sind von oben herabhängende Zapfen, höchstens Fingerlänge erreichen und durch Quergips in den Strudellöchern an der Decke ihren Ansatz fanden.
Neben diesen eigenartigen Formen ist für den wissenschaftlichen Erforscher besonders interessant, daß hier Kalksinter in einer Gipshöhle auftritt. Gips und Kalk sind zwei chemisch verschiedene Verbindungen und können auf natürlichem Wege nicht ineinander überführt werden. Der im Gips als Verunreinigung enthaltene Kalkanteil ist gerade hier sehr gering, so daß der Herkunftsort der kalkabscheidenden Wässer woanders gesucht werden muß. Wahrscheinlich kommen Kalkhorizonte in den den Gips überlagernden Tonen hierfür in Betracht.
Nur diesen stellenweise vorhandenen Kalken ist es also zu verdanken, daß dieses augenscheinliche Paradoxon in der Natur geschaffen werden konnte.

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