Blätter des Osteroder Kreis-Anzeigers für Heimatpflege und Heimatkunde
Nummer 1019Herausgeber: Hans Hubert Giebel, Osterode am Harz17.02.1996

Vom Bahnhof Wulften aus fuhren die Züge einst bis Leinefelde - Geschichte(n) rund um die Eichsfeldbahn:

„Mit Kisten, Kasten und Säcken hinten einsteigen!“

Von Dietrich Witte

WULFTEN. Mitten in der Ortschaft Wulften liegt der Bahnhof, einst ein Ort voller Leben Bewegung und Geschäftigkeit! Heute erinnert nur noch wenig an vergangene Tage. Dunkel und leer schauen den Betrachter die Fenster an. Fast unbewohnt ist der Bahnhof heute. Die Gaststätte findet seit Jahren keine Pächter mehr. Die Eisenbahn hat den Bahnhof verkauft, er „rechnete sich nicht mehr.“ Die Strecke nach Duderstadt wurde für den Zugverkehr gesperrt.

Noch nach dem Zweiten Weltkrieg führte sie sogar bis zum Bahnhof Leinefelde. Die Bürger des Eichsfeldes hatten sich in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts sehr bemüht, auch eine Eisenbahn zu bekommen, denn dieses neue Verkehrsmittel versprach eine deutliche Verbesserung der Infrastruktur, ein Aufblühen der Gemeinden, der Industrie, des Handwerks und des Handels.

Da Duderstadt eine Anbindung an das Bahnnetz wünschte, trafen sich am Juni 1846 einige Honoratioren und Ratsmitglieder und richteten ein Schreiben an den Magistrat Duderstadts, „die Eisenbahn zwischen Cassel und Nordhausen betreffend“: „Es soll die früher schon projektierte Eisenbahn über Cassel nach Nordhausen von den betreffenden Landesregierungen respektive beschlossen und genehmigt sein. Unter den drei projektierten Bahnlinien soll auch eine über Duderstadt zur Sprache kommen. Jedem, der sich nicht selbst täuschen will sind die traurigen Zustände bekannt. Aller Verkehr und alle Gewerbetätigkeit stockt hierselbst. Davon ist allgemeine Nahrungslosigkeit unausbleibliche Folge.“

Dr. Hellrung ein Duderstädter Kommunalpolitiker, war der Initiator für einen Eisenbahnverein, der am 5. November 1846 in Duderstadt gegründet wurde. Einer seiner Vorschläge war es, den Bahnanschluß entlang der alten Nürnberger Heerstraße über Gieboldehausen und dann um den Rotenberg herum nach Wulften zu führen. In den Jahren 1862, 1871 und 1882 bildeten sich in Duderstadt und zuletzt in Lindau Eisenbahncomités zur Förderung des Eisenbahnbaus. Grund für diese intensiven Bemühungen waren die große Armut der Landwirtschaft durch die Erbteilung (Realteilung), der Mangel an Industrie und als Folge vor allem das Auswandererproblern das um 1860 und zwischen 1880 und 1890 seinen Höhepunkt erreichte.

Im Jahre 1882 richteten Bürger des Fleckens Lindau und anderer Orte des unteren Eichsfeldes und der Landwirtschaftliche Verein Gieboldehausen eine Petition an den preußischen Minister für öffentliche Arbeit. Für die zu erbauende Eichsfeldbahn von Leinefelde standen drei nördliche Anschlußpunkte an die Südharzbahn zur Auswahl: Herzberg, Katlenburg und Wulften. Der Punkt Herzberg wurde schnell verworfen, wegen zu hoher Kosten beim Überqueren des Rotenberges. Wulften sollte nur gewählt werden, so der Magistrat in Duderstadt, wenn Lindaus Entwicklung dadurch nicht geschädigt würde. Die Entscheidung der Regierung Preußens fiel dann aber doch für Wulften. Gründe dafür waren die kürzere Streckenführung und die dadurch geringeren Bau- und Betriebskosten.

Nachdem im Jahre 1886 die Verträge zwischen dem Kreis Duderstadt und der Königlichen Eisenbahndirektion in Hannover geschlossen worden waren, begannen die Vorarbeiten. Die Begradigung der Oder, der Bau einer Eisenbahnbrücke über die Oder mit eisernem Unterbau und drei Bögen mit je 24 Metern lichter Weite und der Ankauf von nicht weniger als 1533 Parzellen Land zogen die Bauzeit sehr in die Länge. Jeder Anlieger wollte ja einen möglichst guten Preis für sein Stück Land erzielen. In einigen Fällen mußte sogar zur Enteignung geschritten werden. Es wurden für die knapp 21 Kilometer zwischen Wulften und Duderstadt 15 Monate Bauzeit benötigt.

Mit den Baumaßnahmen kam Leben in die Dörfer des Eichsfeldes und nach Wulften. Viele verbesserten ihr Einkommen durch Fuhrdienste oder vermieteten Zimmer. Zum überwiegenden Teil waren Wanderarbeiter, die mit den Eisenbahnbaustellen durch die Lande zogen, am Bau der Eichsfeldbahn beschäftigt. Diese nahmen in den umliegenden Dörfern Quartier. Manche fanden hier auch eine neue Heimat.

Wulften bekam durch die Eichsfeldbahn ein ganz neues Gesicht, Durch Begradigung und Uferbefestigung bekam die Oder ein ständiges Flußbett. Der Hausbau war nun auch in den Überschwemmungsgebieten diesseits und jenseits der Oder möglich. Die kleine Personenhaltestelle, erst 1879 „nach vielen Mühen“ angelegt, war nun, in Erwartung der vielen Umsteiger, zu klein geworden. Ein neues Empfangsgebäude wurde, wie auch eine große Post (heute Textil Deppe) vom Wulftener Maurermeister Leege erbaut.

Am 31. Oktober 1889 war es dann soweit: In Northeim bestiegen der königlich-preußische Eisenbahndirektionspräsident aus Hannover und der Hildesheimer Regierungspräsident den girlandengeschmückten Zug zur Eröffnungsfahrt. Die Fahrt von Wulften nach Duderstadt war für Tausende, die noch nie in ihrem Leben eine Lokomotive gesehen hatten, ein unvergeßliches Erlebnis. Böllerschüsse krachten, Musikkapellen schmetterten schmissige Märsche, Vereinsfahnen wurden geschwenkt. Jeder Halt des Zuges wurde zum „großen Bahnhof“ für die hohen Herren, die ihre Zylinder schwenkten, und für die Eichsfeldbahn.

Schon einen Tag nach der Eröffnung ereignete sich zwischen Bilshausen und Wulften das erste Eisenbahnunglück. Die beiden letzten Wagen sprangen aus den Schienen, da sie nicht gehörig befestigt worden waren. Es kam allerdings niemand zu Schaden.

Der „Kurwirt“ Heinrich Dietrich, seit Februar 1889 Besitzer des Kurhauses in Herzberg, kam als erster Pächter der Wulftener Bahnhofsrestauration Anfang November 1889 nach Wulften. Nur einige Jahre später errichtete er das Gast- und Logiehaus am Bahnhof (heute Büro- und Wohnhaus der Firma Gropengießer).

Romantisch war die Fahrt mit dem „Eichsfeldexpreß“. Vor jedem der vielen unbeschrankten Bahnübergänge wurde gepfiffen. Bei der Fahrt über die eiserne Oderbrücke wurde anhaltend geläutet. Deshalb nannte man diese auch im Volksmund nur die Bimmelbrücke. „Eichsfelder mit Kisten, Kasten und langen Säcken hinten einsteigen!“ hieß es am Wulftener Bahnhof. In Scharen kamen die Pendler des Eichsfeldes an den Wochenenden zurück aus der Fremde. Der Weg hinaus in die Welt und wieder zurück führte meist über Wulften.

Warten auf den Eichsfeldexpreß - Bahnhof Wulften mit Eisenbahnern
und Postbediensteten um die Jahrhundertwende. Foto: Archiv Witte

„Hast Du Deinen Zug verpaßt, so setz' Dich ruhig nieder! Gönne Dir ein wenig Rast, der Nächste fährt bald wieder!“ Dieser Spruch, er hing einmal im Wartesaal III. Klasse der Wulftener Bahnhofsrestauration, gibt genau die Atmosphäre wieder die dort herrschte. Der Aufsichtsbeamte von Northeim, der mit der roten Mütze, hatte am Wochenende eine wichtige Aufgabe. Er zählte die umsteigenden Pendler aus dem Eichsfeld und meldete sie dem Fahrdienstleiter in Wulften. Dieser gab die Zahl dann pflichtbewußt an den Bahnhofswirt weiter, der sich gern mit einem Nordhäuser oder Steinhäger dafür bedankte. So konnte er die Reisenden nach Duderstadt, Worbis und Leinefelde bevorzugt bedienen, wenn der Zug aus Northeim einlief. Die „kühlen Blonden“ standen vorgezapft auf dem blankgeputzten Tresen, die Fleischbrühe dampfte auf dem Herd und aromatischer Kaffeeduft zog durch die Küche.

Aber nicht nur für die Reisenden war die Eichsfeldbahn wichtig. Nun konnten auch die Produkte der Land- und Forstwirtschaft bedeutend besser transportiert werden. So konnte zum Beispiel der Zuckerrübenanbau erst beginnen, als ein gesicherter Transport zu den Zuckerfabriken in Northeim und Nörten-Hardenberg gewährleistet war. In Westerode wurde für diese Zwecke eine feste Verladestation gebaut. Per Bahnexpreß erreichte frischer Fisch zu den Freitagen und in der Fastenzeit das streng katholische Eichsfeld. Der industrielle Aufschwung begann für das Eichsfeld und das kleine Dorf Wulften. Hier tauschten viele Bewohner den Webstuhl mit einem gesicherten Arbeitsplatz bei der Eisenbahn.

Nur noch Erinnerungen sind geblieben an die harmonische „Eisenbahnerfamilie“, wo auch der Chef noch die Ärmel hochkrempelte und zupackte, wenn Not am Mann war. An vergangene Zeiten als Fahrschüler, an Ballspiele und Rangeleien im Wagen für „Reisende mit Traglasten“, der sich immer am Zugschluß befand, an hastiges Hausaufgabenmachen im wackelnden Abteil oder im schon legendären Triebwagen der Baureihe Vt 95 und 98.

Die romantische Eichsfeldbahn bildete auch einige Male die Kulisse für die Göttinger Filmproduktion. So wurde der Bilshäuser Bahnhof einmal zu einem Kleinstadtbahnhof in Ostpreußen und das tiefverschneite Gelände unterhalb des Rotenbergs zwischen Bilshausen und Gieboldehausen zum Schlachtfeld des Zweiten Weltkrieges. Der Film behandelte die tragische Flucht über die Ostsee in den letzten Kriegstagen und den Untergang der „Wilhelm Gustloff“. Er lief in den Kinos unter dem Titel „Nacht fiel über Gotenhafen“.

Aber dann kam der Niedergang. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Strecke durch die Zonengrenze geteilt worden. Wie 1889 fuhren die Züge nur noch bis Duderstadt. Die Pendlerströme führten nicht mehr mit der Bahn nach Northeim oder Herzberg, sondern mit Bussen nach Göttingen. Der Individualverkehr mit dem eigenen Pkw nahm rapide zu. Die Brennöfen der Ziegeleien wurden nicht mehr mit Koks oder Öl, sondern mit Erdgas beheizt. Die ungenügende Auslastung der Bahn führte schließlich am 25. Mai 1974 zur Einstellung des Personenverkehrs, seit Anfang 1995 wurde auch der Güterverkehr offiziell eingestellt.

Im September 1989 beging die Gemeinde Wulften ihre 1100-Jahr-Feier. Ein Mitglied des Arbeitskreises Ortschronik hatte bei seinen Recherchen herausgefunden, daß der Bahnhof Wulften und die Eichsfeldbahn zum gleichen Zeitpunkt ihren 100. Geburtstag feiern konnten. Dank des Einsatzes einiger Eisenbahnfreunde und Eisenbahner, hier sind besonders der Lokführer Heini Deppe und der Eisenbahner Heini Geile zu nennen, konnte dieses Ereignis mit Dampfzugfahrten gewürdigt werden. Die schnaufenden Züge der Braunschweiger Verkehrsfreunde wurden von neugierigen Pferden und Kühen bestaunt. Die Bewohner des Eichsfeldes, deren Vorfahren bei der Eröffnung 1889 ihre Eichsfeldbahn mit Blaskapellen und Fahnenabordnungen freudig begrüßt hatten, jubelten über diese Jubiläumszüge und winkten ihnen freundlich zu.

Wehmütige Erinnerung an die große Eisenbahnzeit: Ein Wandbild an dem Gebäude der
Hauptgenossenschaft Gieboldehausen ist eines der wenigen Zeugen für diese Epoche.
Foto: Detlef Tront

Impressum / Datenschutz